Wir suchen immer etwas, um vor uns selbst zu fliehen.
Jobs, die uns den ganzen Tag beanspruchen, das TV-Programm, Instagram, Facebook, Youtube – zur Ablenkung.
Bei Einschlafproblemen wird mitunter seltsamerweise „empfohlen“, den Fernseher nebenbei laufen zu lassen. Warum? Weil wir so unsere Gedanken nicht hören müssen, unsere Sorgen abschalten können, unser innerer Kritiker zum Schweigen bringen.
Wir ertragen es kaum die eigenen Gedanken zu hören.
Die Selbskonfrontation ist eines der schwersten und unheimlichsten Dinge überhaupt.
Wir versuchen oft zu fliehen, um zu vergessen, wer wir wirklich tief im Innersten sind und was uns ausmacht.
Es wurde uns vielleicht nie anders gezeigt.
Unser Alltag besteht aus zu viel Arbeit und zu wenig Freizeit. Arbeit, um leben zu können und die Grundbedürfnisse – Wohnung und Nahrung – zu decken, sowie vielleicht zweimal im Jahr in den Urlaub zu fahren.
Ich möchte mich für einen Moment besser fühlen?
Her mit der Schokolade, …mit dem Wein oder mit der Droge, die mich Endorphine ausschütten lassen, weil ich es selbst nicht mehr kann.
Ich möchte meine Laune bessern? Ich kaufe mir etwas Neues und bin für einen Tag lang zufrieden, weil ich glaube, ein neues Paar Schuhe macht mich glücklich… bis ich feststelle, dass dieses Glücksgefühl nicht lange anhält.
Ich fühle mich unwohl in meinem Körper?
Ich gehe ins Fitnessstudio oder renne davon oder stopfe mir aus Frust drei Tafeln Schokolade rein… Um mich danach weiter zu hassen?
Was ist, wenn ich nicht mehr wegrennen kann?
Wenn ich gezwungen bin, mich mit mir selbst zu konfrontieren, da ich weder arbeiten noch studieren oder meinen Hobbys nachgehen kann? Was tue ich mit meiner Zeit und wie gehe ich mit mir selbst darin um?
Welche Bewältigungsmechanismen kenne ich, wenn es mir schlecht geht? Werde ich in alte Muster zurückgeworfen? Wie bin ich jetzt – in diesem Moment?
Ich habe die Wahl!
Wie verbringe ich nun meine neugewonnene freie Zeit? Ein kostbares Gut, das wir uns immer wünschten, weil uns die Arbeit zu sehr beanspruchte und es ja ach so viele Dinge gab, die wir gerne tun wollten… hätten wir doch mehr Zeit!
Jeder darf sich hier fragen: Verbringe ich nun diese geschenkte Zeit vor dem Fernseher, auf Instagram oder am Computer, um mich weiterhin NICHT mit mir selbst zu konfrontieren? Vielleicht ist da eine Angst, Seiten an mir zu erkennen, die mir eventuell nicht gefallen?
Später – nach einigen Tagen oder Wochen – denke ich möglicherweise über die Sinnlosigkeit meines Daseins nach. Vielleicht hasse ich mich dafür… oder ich frage mich: „Warum bin ich so?“
Werde ich in dieser Ausnahmesituation zu einer Person, die nun vermehrt Alkohol konsumiert, raucht oder mehr isst, um sich Befriedigung zu verschaffen, die sie sonst in anderen Dingen fand?
Werde ich durch die Quarantäne depressiv?
…oder war ich es vorher schon? Habe ich das verdrängt? Oder bin ich nur schlecht gelaunt, weil ich nichts mit meiner Zeit anzufangen weiß?
Wer sich jetzt sagt „Das geht schon wieder vorbei, nach der Ausgangssperre wird alles anders, das ist eine Ausnahmesituation“, macht sich dennoch etwas vor. Früher oder später wird jeder mit sich selbst konfrontiert – allerspätestens mit dem Renteneintritt! In der Regel jedoch viel früher, falls er zum Beispiel nach dem Studium keinen Job findet und ungewollt arbeitslos ist oder aufgrund einer Verletzung / Krankheit außer Gefecht gesetzt ist… und dergleichen.
Wenn wir mit unseren Gedanken und jener plötzlichen Leere konfrontiert werden und nicht mehr weglaufen können, kein Ventil mehr haben, erkennen wir vielleicht endlich, wer wir wirklich sind!
Kann ich auch ohne die ständige Stimulation äußerer Einflüsse (Arbeit, Deadlines, Bahnfahrpläne… usw.) Disziplin an den Tag legen, früh aufstehen und all die Dinge tun, für die zuvor kaum Zeit war – weil ich es für mich tue?
Fragen wir uns doch weiter: Warum stehe ich für jemand anderen täglich morgens auf, aber nicht für mich?
Warum halte ich für jemand anderen Deadlines ein, aber halte meine eigenen Vorsätze nicht?
Warum breche ich meine eigenen Versprechen an mich selbst?
Die vermeintlich negativen Seiten dieser Ausnahmesituation können ebenso ins Positive gekehrt werden und uns als eine große Chance dienen!
Als Chance, sich selbst besser kennenzulernen und tiefer in sich hinein zu hören, wo vielleicht jene Fragen auftauchen:
Was macht mich im Leben wirklich glücklich? Was treibt mich an?
Jeder darf nun bereit sein, alle Facetten seiner Persönlichkeit zu betrachten – die guten, wie die schlechten. Jeder kann JETZT an sich arbeiten und Dinge lernen für die er sonst keine Zeit hatte.
Vielleicht ist der Moment gekommen, um sich selbst ein neues Versprechen zu geben?
Ich nutze die Zeit sinnvoll und arbeite an mir, um mir wieder mehr zu vertrauen und stärker, glücklicher und selbstbewusster aus diesem Prozess hervorzugehen.
Ein Leserbeitrag von Christine Mages, 13. April 2020
Studentin der Psychologie aus Leverkusen